2. Preis - Feldkircher Lyrikpreis 2020: Simone Scharbert

Simone Scharbert ist 1974 in Aichach geboren, hat Politikwissenschaft, Philosophie & Literatur in München, Augsburg und Wien studiert, anschließend in Politikwissenschaft über die Osterweiterung der Europäischen Union promoviert; lebt und arbeitet als freie Autorin und Dozentin in Erftstadt. Seit 2017 Lehrbeauftragte am Institut für Deutsche Sprache der Universität Köln. Ausgezeichnet mit der Autorenförderung »Raniser Debüt« (2017), dem Stadtschreiber-Stipendium Schwaz (2018), dem Post.Poetry.Preis der Literarischen Gesellschaft NRW (2018) sowie einem Arbeitsstipendium der Kunststiftung NRW für »du, alice« (2019). EIGENSTÄNDIGE VERÖFFENTLICHUNGEN »du, alice. eine anrufung«. Edition Azur, 2019 »ERZÄHL MIR VOM ATMEN«. Gedichte. Raniser Debüt 2017. Lesezeichen e.V. IN ZEITSCHRIFTEN & ANTHOLOGIEN (Auswahl) Versnetze 13 (Verlag Ralf Liebe, 2020) »poetry.film | Gedichte/Resonanzen« (Schriftenreihe der Kunststiftung NRW, 2020) »LAN«, in: Flusslaut. Online-Anthologie. Literaturbüro NRW (2020) »BERICHT AUS DER NACHT« (In: Die 32 Schimmelarten des Joseph Brodsky; Mikrotext, 2019) »OHNE GEWICHT« (In: Cinema; Elif Verlag, 2019) »BRUSTSCHWIMMEN, wolkengerippt« (Jahrbuch für Lyrik; Schöffling Verlag, 2017) »UND WEITER NICHTS« (In: Lyrik der Gegenwart; Feldkircher Lyrikpreis. 2017)

Laudatio für Simone Scharbert
Eingereicht wurden vier Gedichte, die uns in etwas mehr als zehn Zeilen im Blocksatz die ganze Tragik des jeweiligen Frauenschicksals vorführen. Wir haben es bei Alice B. Toklas, Alice Liddell, Alice James und Alice Salomon mit Frauen zu tun, die Wasserträgerinnen waren, im Schatten von anderen standen und ausgenützt wurden. Hier wird ihnen ein beeindruckendes Denkmal gesetzt! Die Frauen werden persönlich angesprochen, mit Respekt, den sie sich zeitlebens erkämpfen mussten: ich sehe bilder von dir. …und dein staunen….dein körper, körpermusik. acht geschwister, du inmitten, Gekonnt verwebt die Autorin das Leben der Protagonistinnen mit Textfragmenten aus deren eigenen Schriften oder der mit ihnen verbundenen Personen, wie Lewis Carol oder Gertrude Stein, deren tender buttons, Dinge des Lebens, aus der box genommen, sich in die Gedichte streuen und uns hinter die spiegel blicken lassen. Die Leser*innen mäandern zwischen einem filigranen Netz aus Fakten und Befindlichkeiten, die durch Aufzählungen, Wiede-rholungen und Alliterationen verstärkt erlebbar werden: …überhaupt brüche, der einbruch, flüssig, fließend, vom floß in den fluss, fell down the hole, ein sog, tiefer und tiefer, ins ver rückte, ins ver zählte, jeder vers zählte… Hier werden auch Melodie und poetische Wortwahl deutlich, wie sie sich durch alle eingereichten Beispiele ziehen. Obwohl miteinander verflochten behält jede der Frauen ihre eigene individuelle Geschichte. Wir erfahren vom Langmut der Sekretärin im Schatten der Gertrude Stein, vom Rätsel um Alice in Wonderland, von der unglücklichen widerständigen Schwester der berühmten Brüder W. und H. James und schließlich von der Frau, die sich gegen Elternhaus und Gesellschaft behaupten kann. Das abschließende fünfte Gedicht stellt alle vorhergehenden unter das Dach einer durch Jahrhunderte verrückten Welt: we are all mad here. Es lässt sich verstehen als ein Aufruf zum gemeinsamen Widerstand und beschwört den bereits im ersten Gedicht erwähnten same hearty plan, den es nach wie vor gemeinsam zu verfolgen gilt. Simone Scharbert ist kein unbeschriebenes Blatt. Sie hat schon einige Lyrikbändchen herausgegeben. Auch ein Buch über Alice James ist erschienen. Die Jury freut sich, sie auf dem Weg über den Feldkircher Lyrikpreis entdeckt zu haben und gratuliert ganz herzlich zum zweiten Preis.

Marie-Rose Rodewald-Cerha für die Jury des Feldkircher Lyrikpreis 2020